Walter hat netterweise das Thema der Säkularisierung wieder aufgenommen, die bisher vorgestellten Thesen hervorragend zusammengefasst und einige spannende Fragen gestellt. Unter anderem vermutet er, „dass die Säkularisierung kein allgemeines Gesetz ist, sondern eine Frucht der besonderen Religion, die Europa geprägt hat: des Christentums“. Statt zu versuchen auf die vielfachen Fragen selbst zu antworten (da gäbe es gerade ZU viel zu sagen), will ich die Reihe mal fortsetzten, in dem ich eine Position vorstelle, die genau an dieser Hypothese anschließt (wenn auch auf ganz andere Weise wie Walter): die Position von Gianni Vattimo, eines bekannten italienischen Philosophen. Für ihn ist die Säkularisierung tatsächlich die konsequente Fortführung des christlichen Glaubens.
Auch Vattino versucht in seinem Aufsatz ‚Christentum in Zeitalter der Interpretation’ die geschichtliche Situation in der wir leben, sprechen und glauben zu verstehen. Wie der Titel schon sagt, ist seine These, dass wir im Zeitalter der Interpretation leben. Dies bedeutet: Unsere Zeit ist durchdrungen von der ‚Wahrheit der Hermeneutik’, die da lautet: Es gibt keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen, da wir alles stets nur von einem bestimmten Vorverständnis aus verstehen können. Dies mag heutzutage fast wie eine Binsenweisheit klingen, doch Vattimo macht klar: „man [spricht] nicht ungestraft von Interpretation [.]. Die Interpretation ist wie ein Virus, das alles infiziert, womit es in Berührung kommt.“
Das mag fast wie eine – von Stimmen aus dem christlichen Lager nicht unbekannte – Relativistenschelte klingen, Vattimo zielt jedoch in eine ganz andere Richtung. Entscheidend ist nämlich – und das ist ein Punkt der in den ganzen Postmoderne-Debatten oft genug missverstanden wurde: Die ‚Wahrheit der Hermeneutik’ (kurz: 'Alles ist Interpretation') darf nicht als Tatsache, als objektive Aussage, als die eine richtige Beschreibung der Wirklichkeit, als endgültige Entschleierung des ‚wahren Wesens’ der Dinge missverstanden werden.
„Auch die Aussage, dass es nur Interpretationen gibt, ist ‚nur’ eine Interpretation.“ Und weiter: „Wenn man über diesen Sachverhalt ernsthaft nachzudenken beginnt, wird einem schlagartig klar, in welchem Maße die Hermeneutik die Philosophie und die Dinge selbst verändert hat.“ Denn: Wenn die Aussage ‚Alles ist Interpretation’ selbst ‚nur’ als eine Interpretation verstanden werden darf, d.h. als eine spezifische Deutung der Welt, dann stellt diese Deutung selbst eine Antwort auf eine ganz bestimmte geschichtliche Situation dar. Mit anderen Worten: Sie ist Teil einer Situation, der sie zu ent-sprechen sucht und in die wir unentrinnbar verwickelt sind.
Dies bedeutet: Die ‚Wahrheit der Hermeneutik’ ist die Erscheinung der geschichtlichen Existenz, wie sie sich heute zeigt. Dies ist von vielen mit verschiedenen Worten belegt worden: Nietzsche sprach vom ‚Nihilismus’, Heidegger vom ‚Ende der Metaphysik’, andere sprechen vom ‚Ende des Eurozentrismus’, von der ‚Auflösung der Bewußtseinsevidenz durch Psychoanalyse’, Lyotard vom ‚Ende der Metaerzählungen’, usw.
Was Lyotard und andere Theoretiker der Postmoderne jedoch nicht gesehen haben, ist, wie Vattimo meint, „dass Nietzsche und Heidegger aus dem Inneren der biblischen Interpretation heraus sprechen.“
„Tatsächlich ist es nicht so abwegig, wie es zunächst vielleicht klingen mag, den von Nietzsche angekündigten Tod Gottes mit dem Tod am Kreuz, von dem die Evangelien berichten, gleichzusetzen.“
Und damit sind wir beim Kern von Vattimos (für alle Seiten) provozierende These. Vattimo schreibt: „Die Beziehung, die die moderne Hermeneutik zur Geschichte des Christentums unterhält, ist also nicht nur, wie man immer angenommen hat, durch die wesentliche Nähe von hermeneutischer Interpretation und exegetischer Ausdeutung biblischer Texte bestimmt, sondern Hermeneutik – im radikalsten Sinne des Wortes, wie ihn Nietzsche und Heidegger verkörpern – ist nichts anderes als die konsequent entwickelte und zu ihrer Reife gebrachte christliche Botschaft.“ Anders gesagt behauptet Vattimo, „dass der post-moderne Nihilismus die aktuelle Wahrheit des Christentums darstellt“. Das ist natürlich eine steile These.
Vattimo nimmt an, dass die größte Herausforderung der
christlichen Kirchen in der Moderne die Anmaßung der Wissenschaft war, die von sich
behauptete, die einzige gültige Quelle der Wahrheit zu sein. In den
Auseinandersetzungen und Kämpfen mit diesem Anspruch der Alleingültigkeit der
Wissenschaft kam es dazu, dass die christlichen Kirchen sich selbst das objektivistische Wahrheitsverständnis der
Kirche aneigneten, die Aussagen der Bibel als wissenschaftliche Aussagen
behandelten und ein ‚Buchstabenverständnis’ entwickelte.
Damit machten die modernen christlichen Kirchen quasi das
objektivistische Wahrheitsverständnis selbst zum Gott oder Götzen und es kam in
vielen Fragen zum „Riss zwischen Wahrheit und caritas“.
„Der einzige Weg, der der Kirche bleibt […] ihre universalistische Berufung voll zu entfalten, besteht darin, die Botschaft des Evangeliums als Prinzip der Auflösung jedweder objektivistischen Ansprüche zu verstehen. Es ist kein Skandal, wenn wir sagen, dass wir deswegen an das Evangelium glauben, weil wir wissen, dass Christus auferstanden ist, sondern dass wir glauben, dass Christus auferstanden ist, weil wir es im Evangelium gelesen haben. Eine Umkehrung dieser Art ist unabdingbar, wenn wir dem zerstörerischen Realismus und Objektivismus wie auch dem Autoritarismus, den diese im Gefolge haben, und der die Geschichte der Kirche lange Zeit geprägt hat, entkommen wollen.“
Anders: „Wenn es zwischen Christus und der Wahrheit zu wählen gelte, würde ich Christus wählen, heißt es einmal bei Dostojewski. Aber diese Alternative gibt es gar nicht, wenn wir alle Konsequenzen der Botschaft des Evangeliums berücksichtigen. Denn die Wahrheit, die uns Jesu zufolge frei machen wird, ist nicht die objektive Wahrheit der Wissenschaften, auch nicht die Wahrheit der Theologie, ebenso wenig wie es sich bei der Bibel um ein Buch über Kosmologie, ein Handbuch zur Anthropologie oder gar zur Theologie handelt. Die Offenbarung der Schrift ist nicht dazu da, uns darüber zu informieren, wie wir beschaffen sind, wie Gott beschaffen ist, worin die ‚Wesenheiten’ der Dinge oder die Gesetze der Geometrie bestehen – um uns auf diese Weise durch die ‚Erkenntnis’ der Wahrheit zu erlösen und zu erretten. Vielmehr besteht die einzige Wahrheit, die uns die Schrift offenbart, in der Wahrheit der Liebe und der caritas, die keiner Entmythologisierung unterzogen werden kann, da es sich bei ihr nicht um eine logische oder metaphysische Aussage, sondern um einen praktischen Appell handelt.“
Und noch mal auf den Punkt: „Weil wir noch nicht nihilistisch genug sind, das heißt weil wir noch nicht christlich genug sind, setzen wir dem geschichtlichkulturellen Verständnis der biblischen Tradition immer noch die 'natürliche Wirklichkeit' entgegen, die angeblich unabhängig von jeglicher Überlieferung existiert und von der wir immer noch glauben, dass sie den 'Maßstab' auch für die biblische Wahrheit abgeben sollte.“
Soweit die sicherlich provozierenden Thesen von Vattimo. Bin gespannt wie die verehrte Leserin dazu denkt...
Wow - spannend! Das geht wirklich in eine strukturell ganz ähnliche Richtung! Es juckt mich in den Fingern, was dazu zu schreiben, aber heute sind erstmal Trauerfeier und Trauung dran. Aber es kommt noch was.
Posted by: Walter | May 09, 2008 at 09:12
Ok Christentum besteht in der grundsätzlichen Kritik aller objektiven Ansprüche. Das erinnert an Caputo. Aber: warum eigentlich? Sagt Vattimo das die Dekonstruktion der einzige Weg ist, für das Christentum zu überleben? Oder ist im Christentum die Dekonstruktion schon eingebettet? Das wäre meine Anfrage auch an Freund Pete Rollins: wie gründet man denn eigentlich diesen vermeintlichen Impuls zur Dekonstruktion exegetisch? Ich mein: im Neuen Testament ist das Bildverbot meines Wissens kaum ein Thema. Eher wird Gott mit erstaunlich scharfen Konturen umrissen.
Weiter: mir fällt es immer auf, wie naiv das manchmal klingt, wenn postmoderne Philosophen über Liebe reden. Das Reden über Liebe ist meiner Meinung nach in Zeiten von neurobiologischer und psychoanalytischer Altruismusforschung deutlich schwerer als das Reden über Gott.
Posted by: Arne | May 09, 2008 at 18:56
@Walter: Ich bin gespannt!
@Arne: Das ist natürlich eine berechtigte Frage der man ausführlicher nachgehen müsste - ich würde knapp sagen: ein solch dekonstruktivistischer Impuls ergibt sich neutestamentarisch aus der Epistemologie der Liebe sowie damit verbunden, dass Wahrheit einen personalen (Jesus sagt: Ich bin die Wahrheit) und nicht einen substantiellen Charakter hat. Aber das versuche ich bald mal mehr auszuführen. Dein Argument mit der Liebe verstehe ich nicht, das musst Du mal mehr ausführen...
Posted by: tobiK | May 10, 2008 at 10:53
Ok hab n Blogpost geschrieben.
Posted by: Arne | May 12, 2008 at 13:35
Sophist!
Ich wusste es ja immer, Vattimo ist ein Sophist im sokratischen Pelz! ;) Nicht dass ich was gegen Sophisten hätte, aber man muss sich das ja mal auf der Zunge zergehen lassen. Die These ist der Knaller: Konsequente Hermeneutik ist die zu Ende gedachte christliche Botschaft. Ich weiß, dass ich nichts weiß; und das ist eine Weißheit möchte man rufen!
Soweit so gut, aber der Bezug auf den Nihilismus entlarvt den Wolf. Denn die Negation der Wahrheit, die Vattimo hier als Befreiung verkauft, mag zwar „für sich“ genommen tatsächlich von bestimmten Problemen „erlösend“ wirken. Aber „an sich“ ist das doch auch nur eine Negation, welche ihr eigenes Paradoxon der selbst-negierenden Verkehrung enthält (um Hegel ins Spiel zubringen). Denn es muss ja festgehalten werden, dass die nihilistische Position welche angeführt wird, zwar zunächst den Interpreten (Menschen) als das schaffende, wollende und wertende Ich zum Maß und Wert der Dinge macht (so Nietzsche in der Götzen Dämmerung mit Bezug auf die Sophisten). Dieses führt aber auch zudem, was der Sophist Xeniades so treffend formuliert hat, nämlich: Dass es, wenn der Mensch das Maß der Dinge ist, es dann auch keine wahren Urteile mehr geben kann. (Folglich auch der Mensch keine Wahrheit mehr ist). Wahrscheinlich hat dieser Denker damit mehr gesagt als er sagen wollte, aber den Punkt hat er doch getroffen. Denn aus einer einfachen Negation, folgt kein Positives. Im Gegensatz zu den Sophisten ist das Nichtwissen des Sokrates eine Weißheit in dem Sinne, dass sie uns behüten möchte nur vermeidliches Wissen als Wahrheit anzunehmen. Die Konsequenz die er daraus zieht ist nicht, dass das Nichtwissen zu akzeptieren währe, sondern im Gegenteil es eine Aufforderung darstellt, sich um das Wahre und Gute zu bemühen. Da nur das Wissen um das Gute uns befähigt, das Gute zu tun und zu erhalten.
Mag die Antike Philosophie und die christliche Botschaft oft meilenweit aneinander vorbeireden, so gehen sie hier d’accord. Denn die von Vattimo erwähnte „Wahrheit der Liebe“ ist nicht nur praktischer Natur, sondern als Realität / Wahrheit gedacht. Betrachtet man dies genauer, funktioniert die Liebe überhaupt nur, wenn sie als Wahrheit besteht und zwar positiv als Grundlage. Vattimo steigt genau da aus wo es spannend wird, nämlich die „Beschaffenheit Gottes“, bzw Gott selbst, ist die positive Liebe. Dies ist die zentrale „Wahrheit“ die die Bibel verbreitet und beansprucht. Diese Liebe mag zwar eine andere Form von Wahrheit sein als das wissenschaftlich exakte 1+1=2. Aber es ist durchaus eine objektive Form von Wahrheit, zumindest in dem Sinne, dass sie ein realer Gegenstand ist, also unser Leben beeinflusst. Die These von Vattimo, dass die christliche Botschaft eine konsequente Hermeneutik bedeutet, müsste somit umgedeutet werden. Hermes der Überbringer der Botschaft, hat nicht nur die Botschaft der Götter vorbeigebracht, sondern diese auch gleich verständlich interpretiert. Nur ein positiver Schlüssel bringt „an sich“ einen Sinn hervor. In dieser Hinsicht muss die christliche Botschaft als positive und objektive Wahrheit begriffen werden, die sehr wohl metaphysisch die Wahrheit der Liebe als Grund des Seins annimmt. Und dies nicht diffus, sondern tatsächlich konkret in der Person Gottes.
Mag Vattimo dieses gefallen, oder nicht, Wahrheit wird in der christlichen Botschaft durch die Person Gottes beansprucht. Und ein letzter Satz dazu aus M. Aurel’s Wege zu sich Selbst: „Die Werke der Götter sind voll von Spuren ihrer Vorhersehung. Auch die Erscheinungen des Glückes sind nicht unnatürlich, treten nicht ein ohne das Zusammenwirken und die Verkettung der von der Vorhersehung gelenkten Ursachen.“ Diese natürliche Wirklichkeit Gottes ist Grundlage der christlichen Botschaft. Interpretation hin, oder her, man kann es versuchen nachzuvollziehen, oder eben nicht.
Posted by: Frank Martin Rehnen | May 18, 2008 at 01:49
Hey Frank,
das ist ja selbst sehr sophist_icated. ;-) Zu Deiner Kritik: Ich denke, Du hast insofern Recht, als das man Vattimo vorwerfen an der entscheidenden Stelle zu grob und mit missverständlichen Termini zu reden, so dass es tatsächlich leicht fällt, ihm in Sinne eines totalen Subjektivismus zu deuten. Ich glaube aber, dass er das nicht will, dass für ihn 'Alles ist Interpretation' gerade nicht bedeutet anzunehmen, dass Gott nicht etwas Reales ist, was konkreten Einfluss auf unser Leben hat. Im Gegenteil: Wenn man konsequent von dem Wesen Gottes, d.h. der Liebe her Wahrheit denkt, dann gerät sowohl ein objektivistisches als auch ein subjektivistisches Wahrheitsverständnis ins Wanken - nur fällt es uns eben sehr schwer das anderes zu denken...Was meinst Du?
Posted by: tobiK | May 26, 2008 at 22:00
Ja ja ein bisschen Show muss schon sein. ;) Da ich kein Vattimo Experte bin, kann natürlich nicht wirklich beurteilen weshalb er diese Perspektive letztendlich verwendet.
Den Punkt, den er macht, dass das biblische Wahrheitsverständnis einen objektivistischen und subjektivistischen Wahrheitsbegriff ins Wanken bringen kann, würde ich ja sogar teilen. Nur tut es dies, weil es einfach ein „Anderes“ Konzept ist, oder aber weil es ein „bestimmtes“ anderes Konzept ist? Bei Vattimo habe ich das Gefühl, er verwendet es eher als ein Kontrastprogramm und ist weniger am Konzept der biblischen Wahrheit interessiert. Die Enthaltsamkeit von anderen Wahrheitskonzepten als dem personalen der Bibel (Gott), ist ja gerade nicht als völlige Befreiung gedacht, die uns zu freien Interpreten macht, unter der Auflage auch ein bisschen „caritas“ zu betreiben. Sondern radikaler, die einzige Wahrheit ist diese (spezielle) Liebe, Interpretation ausgeschlossen und Abhängigkeit vorausgesetzt. Dementsprechend werden wir zwar schon zu freien Interpreten, wenn wir in „caritas“ handeln. Handeln und Interpretationen jenseits dieser Liebe werden jedoch als „Verfehlung“ der Wahrheit bezeichnet. Auch wenn uns die Beurteilung darüber nicht mehr zu kommt, sondern in der Person der Wahrheit also Gott liegt. Hier kann man schon einen befreienden Aspekt ausmachen. Jedoch kann es ja aus einer derartigen Perspektive der biblischen Wahrheit gar nicht um einen Nihilismus gehen, der dann zu einer Befreiung führt. Sondern genau im Gegenteil, es geht um die Bejahung einer einzigen positiven Wahrheit, der zugunsten alles andere Hintergrund tritt. Nun und ich kann mir nicht so ganz vorstellen, dass Vattimo dort hinmöchte. Deswegen auch der Sophisten Einwurf. Denn mir scheint es so, als ob hier redegewandt die Negation, also das in den Hintergrund treten, als das eigentlich Positive hervorgehoben wird... Macht das Sinn?
Posted by: Frank | May 28, 2008 at 19:09
Ja, das macht Sinn. Verstehe jetzt, denke ich, besser, was Du meinst. Letztlich fürchte ich, dass ich seine Problemanalyse gut finde, seine präsentierte Lösung aber nicht wirklich überzeugend.
Eine mögliche Alternative versuche ich hoffentlich bald mal vorzustellen.
Beste Grüße!
Posted by: tobiK | May 30, 2008 at 17:22