Vor kurzem habe ich das Buch „Ich sah den Satan vom Himmel
fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums“ des
Kulturanthropologen René Girard gelesen. Was soll ich sagen: Es ist schon wieder
ein Buch, das ich nicht nur empfehlen,
auch nicht nur anempfehlen, sondern
fast schon zu Lesen befehlen möchte.
Jedenfalls leistet Girard eine durch und durch ungewöhnliche Perspektive auf das
Evangelium, die mir geholfen hat, eine neue Dimension an diesem wohl
unausdeutbaren Geschehen zu sehen, bzw. einige Aspekte an diesem zu erhellen,
die mir vordem eigentlich völlig unverständlich und ein Ärgerniss im negativen
Sinne waren.
Girard gehört wohl zu den zwanzig bekanntesten französischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts, was angesichts der Tatsache, dass es von diesen ja nicht wenige gibt, einiges bedeutet; so wird er zumindest auch im deutschen Feuilleton breit rezipiert (auch hier und hier). Umso verwunderlicher ist dies, weil im Zentrum von Girards Denken etwas steht, was in der heutigen Anthroplogie sowas wie eine, wenn nicht die Todsünde darstellt: die Annahme einer universalen anthropologischen Konstante (d.h. er behauptet eine Eigenschaft, die Menschen aller Kulturen und aller Zeiten gemeinsam ist).
Diese ist das mimetische Begehren, was meint, dass Menschen nicht nur grundlegend von ihren Begehren angetrieben werden, sondern, dass ihr Begehren, stets auf das gerichtet ist, was von den Nächsten begehrt wird. Dies aber schafft unvermeidlich Rivalitäten, die aber nicht nur dazu führen, dass Menschen das Gleiche begehren, sondern dieses ‚gleiche Begehren’ steigert das Begehren nochmals, so dass sich die Rivalitäten gegenseitig verstärken und zur Quelle zwischenmenschlicher Gewalt werden. Würde dem Begehren kein Einhalt geboten, würde das mimetische Begehren unvermeidlich in den berühmten Kampf aller gegen alle münden.
Der in archaischen Gesellschaften gewöhnliche Mechanismus der Dynamik dieser Rivalitätsspirale Einhalt zu gebieten, ist der Sündenbockmechanismus. Dieser ermöglicht, dass sich die gegenseitige Rivalität auflöst, indem sich zumindest zeitweilig alle gegenseitige Rivalität und Gewalt gegen eine Person richtet und so Einigkeit hergestellt wird. Dem Sündenbock wird alle Schuld zugesprochen und vom, von gewaltätiger Ansteckung befallenen, tobenden Mob gewaltsam hingerichtet.
Dieser Mechanismus, bei dem das Alle-gegen-Alle in ein Alle-gegen-Einen verwandelt wird und bei dem das soziale Chaos in soziale Ordnung überführt wird, wirkt derart läuternd, kathartisch und wahrscheinlich auch euphorisierend, dass es wohl häufig zur Vergöttlichung des Opfer kommt – was nur heißt, dass diesem eine göttliche Macht zugesprochen wird (die des Frieden und Ordnung stiftens), nicht jedoch, dass diese als Gut gilt. Da nach einer Weile jedoch unvermeidlich die mimetischen Begehren und damit die Rivalitäten erneut beginnen und sich steigern, kommt es üblicherweise zu rituellen Imitationen des Sündenbockgeschehens, indem man der Gottheit Opfer bringt (Mensch- oder Tieropfer).
Was hat dies nun aber mit dem christlichen Glauben zu tun? Als in den vergangenen Jahrhunderten zunehmend Reisende und Ethnologen von archaischen Kulten berichteten, zog sich durch diese wie ein roter Faden Berichte von Todes- und Auferstehungsmythen, die mit der kollektiven Tötung eines Opfers beginnen und in die triumphalen Wiederkehr des auferstandenen und divinisierten Opfers münden. Hier erkannte man dann eine Ähnlichkeit zu Tod und Auferstehung Jesu Christi, die sodann zu einem ebensolchen Mythos erklärt wurde.
Anstatt diese Ähnlichkeit zu verleugnen, will Girad jedoch zeigen, dass sie noch spektakulärer als angenommen ist, denn erst sie macht die grundlegende Differenz zwischen Mythen und Christentum deutlich. Während in den Mythen die Wahrheit systematisch in ihr Gegenteil verkehrt wird (sie erklären die Opfer für schuldig und die Verfolger für unschuldig), ist das Opfer Jesus unschuldig. Genau dies ist der Unterschied zwischen Sündenbock und Lamm Gottes. „Den mythischen Gottheiten stellt sich ein Gott entgegen, der nicht aus dem Mißverständnis über das Opfer hervorgeht, sondern willentlich die Rolle des einzigen und alleinigen Opfers annimmt und erstmals die umfassende Offenlegung eines Opfermechanismus ermöglicht.“ Während in den archaischen Mythen die Menschen also über sich selbst getäuscht werden, klärt das Christentum die Menschen über sich selbst auf, statt ein Mythos zu sein wirkt es entmythisierend. Dies macht für Girard die anthropologische Einzigartigkeit des Christentums aus.
Gegen Ende des Buches argumentiert Girard sogar dahingehend, dass unsere heutige Fähigkeit Unterdrückungs- und Verfolgungssituationen erkennen und anklagen zu können ein direktes Erbe der jüdisch-christlichen Offenbarung ist, die die von diesem Erbe geprägten Gesellschaften von allen anderen unterscheidet. Dem widerspricht natürlich vollkommen die gängige Deutung und Selbstwahrnehmung der westlichen Gesellschaften: „Nie habe sich eine Gesellschaft, hört man häufig, den Armen gegenüber so gleichgültig gezeigt wie die unsrige. Aber wie kann das sein, gab es doch die Idee der sozialen Gerechtigkeit, so unvollkommen sie auch umgesetzt sein mag, nirgendwo sonst. Sie ist eine Erfindung jüngeren Datums.“
Auch wenn „die moderne Sorge um das Opfer“ bisweilen bizarre Züge annimmt und „zur lächerlichen Karikatur“ verkommt, ist sie „nicht in erster Linie eine heuchlerische Komödie“. Und: „Unsere Welt hat das Mitleid nicht erfunden, aber sie hat es universalisiert.“
Soweit nur eine ganz kurze Zusammenfassung des grundsätzlichen Gedankengangs. Nicht erwähnen konnte ich Girards zahlreiche Bezüge zu biblischen Thematiken, z.B. der Aufweis des mimetischen Begehrens anhand des 7. bis 10. Gebots, die Logik der Nachfolge Christi angesichts des mimetischen Begehrens, der Passionsbericht im Licht des Sündenbocksmechanismus, Girards Deutung des Todes Johannes des Täufers sowie des Gottesknechts, Satans, Hiobs und des Heiligen Geistes, die Rolle des Gründungsmordes, der Vergleich von Ödipusmythos und Josephsgeschichte usw…Dazu müsst ihr eben das Buch selbst lesen. Ich hoffe, ich konnte ein wenig Interesse wecken (siehe auch die Serie bei Experimental Theology)...
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