Wie ich in Harald Welzers hervorragendem Buch ‚Das kommunikative Gedächtnis’ las, haben in den letzten Jahren eine Reihe von Studien in unterschiedlichen Kulturen gezeigt, dass bereits Neugeborene erhebliche Präferenzen für menschliche gegenüber nicht-menschlichen Reizen haben. Dies betrifft die Bevorzugung von menschlichen Gesichtern gegenüber unbelebten oder zufälligen Mustern, die Bevorzugung des Klanges der menschlichen Stimme gegenüber anderen Tonfolgen (auch wenn diese dieselbe Tonhöhe und Intensität haben), die Präferenz von Muttermilch gegenüber Kuhmilch usw.
Dies ist zwar kein Beweis, doch aber ein starker Hinweis darauf, dass Bubers Unterscheidung von zwei gänzlich unterschiedlichen ‚Weltbezügen’ – Ich-Du-Beziehung (in der ich mich auf eine andere Person beziehe) und Ich-Es-Beziehung (in der ich mich auf etwas unbelebtes beziehe) – mehr ist als eine willkürliche Unterscheidung, die wissenschaftlich kein Rolle spielt bzw. spielen kann.
Genau für diese Realitätsebene zwischenmenschlicher Beziehungen, die in unserem Alltagsleben und Alltagsverstand ein Unterschied im Ganzen macht, gibt es in der modernen Wissenschaft jedoch keinen (ontologischen) Platz. Denn sie lebt letztlich immer noch in der fundamentalen Trennung von Subjekt (der wiss. Erkenntnis) und Objekt (der wiss. Erkenntnis). Zu ihrem Objekt kann sie natürlich auch das menschliche Leben machen, nur nimmt sie dieses auch dann nur aus der Dritten-Person-Perspektive war (bezieht sich auf eine Es-heit), die zweite-Person-Perspektive (einer Du-Anrede) muss sie systemtisch ausschließen.
Dieses Realitätsverständnis hat weitreichende Folgen für das grundsätzliche Weltbild allerderjenigen, die in einer westlichen Kultur aufgewachsen sind. Eben darin, dass wir ein Weltbild haben, unseren wesentlichen Bezug zur Welt also als a) in der Metapher des ‚Sehens’ und damit zusammenhängend b) als einen sachlichen Bezug eines Subjekts zu einem Objekt (Weltbild) beschreiben.
Im Gegensatz dazu wird in der Bibel davon gesprochen, dass die letzte Realität nicht sachlich, sondern personal (Jahwe) ist. Das macht einen Unterschied im Ganzen: So gibt es bspw. im hebräischen kein Wort für Natur, sondern ‚nur’ eine Schöpfung. Mit anderen Worten: Es gibt kein Konzept für eine sachliche Wirklichkeit (Natur), die ohne personalen Bezug (hier: den des realitätsstiftenden Schöpfers) auskommt. Zwar werden auch in der Bibel Metaphern des Sehens benutzt, noch häufiger sind jedoch Metaphern des Hörens. Wie würde es also aussehen, wenn wir unseren wesentlichen Bezug zur Welt nicht in der Metapher des Sehens, sondern in der Metapher des Hörens, nicht als einen sachlichen, sondern als einen letztlich personalen beschreiben?
Unter den "Sehenden" ist der Blinde vermutlich der einzige der gut hören kann. Frag doch mal einen Blinden, was er zum Weltbild sagt. :-)
Übrigens, was mir noch zu Himmel/Hölle eingefallen ist, ich lese grade folgendes total superspannendes Buch:
http://www.amazon.com/Pearly-Gates-Cyberspace-History-Internet/dp/0868247448
Kann ich nur empfehlen, wenn man noch mehr über die Geschichte von Himmel und Hölle lesen mag.
Posted by: L'g. | Jul 08, 2007 at 11:47
Die große Erkenntnis des monotheistischen Judentums war, dass der Grund von allem personal ist. Im Gegensatz zu manch anderen "abstrakten" Religionen, die diesen Seinsgrund als etwas unpersönliches sehen.
Und das christliche Konzept der Dreieinigkeit geht sogar noch weiter. Gott wird nicht nur als Person gesehen, sondern als "Beziehungsgeflecht" in sich. Nicht nur das Personsein macht Gott aus, sondern das Drei-Personen-in-eins-sein. Gottes Wesen ist also schon in sich Beziehung. Dadurch lässt sich auch sagen "Gott ist Liebe", da Liebe ein Merkmal von Beziehung ist und nicht alleine möglich.
Und da ist unsere ganze mediale Welt an ihrer Grenze angelangt. Wenn das Nachdenken über etwas - die Schrift - als das Ganze angesehen wird, wie bringt man dem Menschen bei, dass der wichtigste Aspekt des Seins außerhalb davon liegt?
Ich glaube eigentlich, dass sowohl Sehen als auch Hören (und Fühlen, Schmecken) dazu beitragen können. Alle Sinne eben, solange sie nicht dem Kognitiven Rechenschaft schuldig sein müssen, sondern unmittelbar angewandt werden.
Posted by: Tino | Jul 19, 2007 at 23:36
@L´g: Danke für den Tip!
@Tino: Danke für Deinen Kommentar. Ich habe auch nichts gegen das Sehen, nur ist dieses unsere zentrale Metapher des Weltzugangs und von daher brauchen wir erstmal Alternativen.
Und was würdest Du unter unmittelbar verstehen? Einen irgendwie gearteten unmittelbaren Weltzugang halt ich jedenfalls für eine Illusion...
Posted by: tobiK | Jul 20, 2007 at 18:29
Ich sag's mal so: es gibt im Körper zwei große Nervenzentren. Das eine ist im Gehirn, das andere im Darmbereich. Letzteres ist meines Wissens nach neuro-physiologisch noch kaum erfasst, wird aber direkter angesprochen als die kognitiven Zentren des Großhirns.
Was ich eigentlich sagen will: du hast schon auf die Tonwahrnehmung bei Säuglingen hingewiesen.
Ich denke wir müssen lernen, "zusammenhangloser" zu denken. Also dass ein Musikstück oder ein Bild nicht nur dann relevant sind, wenn man ihren Sinn in Worte fassen kann, sondern wenn sie einfach "wirken". Also lyrischer denken...ganz kommen wir natürlich nicht vom Kognitiven weg (muss auch nicht sein), aber es sollte als ein nach oben offenes System verstanden werden.
So, sorry, ich rede gerade etwas zusammenhanglos ;-)
Posted by: Tino | Jul 20, 2007 at 20:17