Ich möchte heute noch eine Buchempfehlung ausprechen – diesmal jedoch ganz anderer Art. Als ich mit meiner Liebsten im Frühjahr in London war, hatte ich auch die Ehre mich mit Jason Clark auf einen Kaffee zu treffen. Jason schreibt gerade neben seinem Job als Pastor und seiner Tätigkeit als Leiter von Emergent-UK an einer Doktorarbeit in Theologie. Im Grunde ist es eine Mischung aus Theologie und Soziologie; Jason fragt sich, wie wir Kirche/Gemeinde so gestalten können, dass sie Gesellschaft wirklich verändert und nicht letztlich einfach nur die Konsumkultur reproduziert. Sehr spannend!
Jason machte mir an diesem Tag eine Buchempfehlung: ‚The
Rebel Sell. How The
Counterculture Became Consumer Culture.’ O-Ton: ‘Wenn Du dieses Jahr nur
ein Buch liest, lies dieses.’
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich skeptisch war. Ich
dachte, dies ist wieder so ein Buch, das mir sagt, dass die Konsumkultur böse
ist und dass die Alternativkultur sich selbst verraten hat – doch das weiß ich alles
doch schon längst, etc.
Nachdem ich nun jedoch gut die Hälfte des Buches gelesen
habe, bin ich ganz begeistert und kann Jason absolut verstehen. Das Buch ist
voller ‚Augenöffner’ und räumt mit einer Menge Mythen auf, mit denen man als
jemand, der sich doch irgendwie als ‚alternativ’ und ‚kritischer Freigeist’
bezeichnete und bezeichnen würde, ganz natürlich groß geworden ist und die Teil
des eigenen Selbstverständnisses geworden sind. Oft kann man sich nur
verwundert die Augen reiben und sich fragen, warum man denn so ein Schwachsinn
glauben konnte und warum man darüber nicht schon vorher nachgedacht hat oder
warum man Gedanke X nie zu Ende gedacht hat.
Also: Allen denjenigen von Euch, die sich als gesellschaftlich-kritisch oder irgendwie alternativ bezeichnen würden, kann ich dieses Buch nur sehr, sehr ans Herz legen. Besonders auch denjenigen von uns, die an der ‚emerging conversation’ teilnehmen oder sich über Gesellschaftstransformation Gedanken machen oder die sich überhaupt mit Alternativen der gängigen Gemeindekultur befassen oder in einer solchen (z.B. ‚Jesus Freaks’) zu Hause sind, kann ich das Buch nur wärmstens und mit einem persönlichen Flehen empfehlen. So sicher es ist, dass sich vieles, vieles ändern muss, so sicher ist es, dass man dabei mit vielen guten Intentionen viele letztlich kontraproduktive Dinge machen kann. Ich glaube dieses Buch kann gut dabei helfen hier die Spreu vom Weizen zu unterscheiden. (Wie ich gerade gesehen habe, gab/gibt es auch eine deutsche Ausgabe)
Natürlich würde ich auch liebend gerne in einer Serie die wichtigsten Gedanken dieses Buches zusammenfassen. Vielleicht schaffe ich das auch, jedoch ist es auch höchst unrealistisch, weil ich nur wenig Zeit habe und es sehr zeitaufwendig ist, englische Bücher im deutschen zusammenzufassen. (Ich verkneife mir an dieser Stelle den bekannten Spruch eines noch bekannteren Pseudoberhauptes zu bringen – statt dessen fällt mir der mir letztbekannte Versprecher(?) seines Landsgenossen Stoibers ein, der anläßlich der Wahl der sieben Weltwunder über den Bekanntheitsgrades von Neuschwanstein in aller Welt philosophierte: ‚Die Menschen aus aller Welt wissen von Schwanstein und seiner Schönheit, oder äh sie ahnen es’ – Grandios!)
klingt sehr cool! leider echt nirgendwo in deutsch erältlich. falls die diss fertig ist, kannst du ihn ja betteln sie uns zukommen zu lassen
Posted by: markus | Jul 16, 2007 at 09:09
Gibt es gebraucht (aber neu) bei amazon.de für 2 Cent (!) plus 3 Euro für amazon marketplace. Gerade geordnert. Nur so als Tipp!
Posted by: Wegbegleiter | Jul 16, 2007 at 11:30
Hm ja ich denke es knarrt im Gebälk der alternativen Kultur. Die Klugen bemerkten es ja schon länger. Marcus Wiebusch hatte damals diese ganzen Kämpfe vertont. Der Übergang von ...but alive zu Kettcar spricht ja Bände (und ich glaube eben nicht, dass früher als die alle noch 'unkomerziell' waren alles besser war). In ..but alive singt er noch
"Wenn es nur noch um Musik geht
dann war alles nur ein Irrtum.
Volker Rühe macht jetzt Punkrock.
Es ist nichts mehr wert"
Und jetzt stellt er fest:
"Als ob wir anders wär'n
Money left to burn"
bzw. fragt:
"Sind wir jetzt schon reaktionär?".
Ähnliche Prozesse kann man beim Übergang Refused zu Noise Conspiracy sehen. Es scheint mir schon so, dass vermehrt gefragt wird, ob die Denkvorrausetzungen stimmen.
Posted by: Arnachie | Jul 19, 2007 at 21:25
Mich erinnert der Titel des Buches (ich hab das noch nicht gelesen!) an ein anderes Buch: "Wir nennen es Arbeit!"
Darin wird offenkundig über einen neuen Weg zu Leben gesprochen, aber die Autoren nennen es nicht etwa "Leben 2.0" oder "Finanzierungsmodell" oder "Zukunftskonzept" oder "Networking" oder "Existenz am Existenzminimium", nein sie nennen es "Arbeit"!
Friebe und Lobo - die beiden Autoren des Buches - etikettieren schlicht "Leben am Existenzminimum" um in "Digitale Bohéme". Das ist ein ähnlicher Ansatz, wie das "Culture Jamming" bzw. die Annektierung von Marken in dem Buch "No Logo!" bveschrieben wird. Ein wenig ist das wie in einem Witz über die große Softwarefirma Microsoft:
"Wieviele Menschen braucht man bei Microsoft, um eine kaputte Glühbirne auszuwechseln? Antwort: Keinen, Microsoft erklärt Dunkelheit zum Standard."
Die Umdeklaration des Existenzminimums (Dunkelheit) zum neuen Lebensmodell der Zukunft (Standard) ist ganz sicher kaum die Lösung.
Ich schätze mal, dass "The Rebell Sell" in eine ähnliche Richtung geht. Klar, der Markt weiß auch wie man "Rebels" an den Kunden bringt. Und auch als "Rebel" verkauft man sich ja irgendwie.
Ich schätze mal, das die einzige wirklich rebellische Maßnahme im Durchbrechen der Wertkettenströme liegt, also entweder dem Arbeitsboykott, dem Verdienstboycott, oder dem Konsumboycott. Das wäre dann echtes "Jamming".
Solange wie man gezwungen ist Produkte zu kaufen, bei denen man die im Preis enthaltenen Kreditzinsen des Herstellers mitbezahlt und so weiter an der geldumverteilung und Ungerechtigkeit mitwirkt, ändert sich nichts.
Eine Alternative wäre es, seine Produkte nur noch in lokalen bzw. regionalen Währungssystemen zu bezahlen. Das klapppt z.B. super im Chiemgau mit dem "Chiemgauer", einer lokalen Währung, ohne Kreditzinsen.
Damit macht man wahres "Systemjamming".
Meine 2 cent.
Posted by: L'g. | Jul 20, 2007 at 08:47
@Wegbegleiter: Danke für den Tipp, bezog sich das auf das englische oder das deutsche Exemplar?
@L´g: Danke für den ausführlichen Kommentar. Mit vielem hast Du wohl Recht. Die Autoren würden aber sagen, dass Konsumboykott auf jeden nichts bringt, da das Geld, was Du verdienst sowieso ausgegeben wird, von Dir oder Deiner Bank...
Posted by: tobiK | Jul 20, 2007 at 18:26
@Arnachie: Ja, schön wär´s ja. Tocotronic haben da scheinbar auch viel begriffen, wie mir scheinen will - und das nicht erst jetzt mit 'Kapitulation'.
Posted by: tobiK | Jul 20, 2007 at 18:36
Andere Frage: lieber oberflächliche Kritik als noch mehr zynisches Schulterzucken? Lieber falsche Denkvorrausetzungen als gar nicht denken? Lieber Schattenboxen als gar keine Wut mehr?
Posted by: Arnachie | Jul 23, 2007 at 19:16
Warum falsche Alternativen? Oder ist das jetzt eine Anspielung auf Kapitulation?
Posted by: tobiK | Jul 23, 2007 at 19:29