Im letzten Post ging es darum
Gerechtigkeit zu schaffen und Unterdrückung zu bekämpfen. Nicht immer und nicht
überall sind die sozialen Leiden jedoch deutlich zu erkennen. Längst leben wir
in einer Zeit in der Fremdbestimmung zunehmend über Selbstbestimmung läuft und
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Individuum und Gesellschaft sowie
Freiheit und Macht daher nicht mehr einfach strikt oppositional (also als
einander gegensätzlich) gedacht werden können.
Es kennzeichnet unsere Zeit, dass
wir Menschen von einem ständigen Imperativ zur Selbstoptimierung ‚terrorisiert’
werden, wir müssen immer aktiver,
flexibler, und kompetenter werden; jeder wird, ob er will oder nicht, ‚Unternehmer
seiner selbst’. Dies ist – wie ich denke – eine der verborgenen Hauptquellen
sozialen Leidens in der Gegenwart.
Diese vertrackten Zusammenhänge besser zu verstehen hat sich die Gouvernementalitätsforschung zur Aufgabe gemacht. Den analytischen Focus auf ‚Gouvernementalität’ zu legen, bedeutet den systematischen Zusammenhang zwischen Macht und Subjektivität, zwischen Herrschaftstechniken und ‚Technologien des Selbst’ bzw. zwischen Formen der Fremd- und der Selbstführung zu untersuchen. Im Zentrum steht dabei der Begriff der Regierung (der weg vom staatlichen Regieren auf alle Verfahren zur Lenkung von Menschen ausgeweitet wird) und die grundlegende These, dass Machttechniken vor allem in der subtilen Form eines ‚Führens von Führungen’ auftreten.
Keinesfalls geht es um eine Verschwörungstheorie, es geht nicht um ein einzelnes (z.B. DIE Wirtschaft) oder eine Gruppe von Subjekten (z.B. die herrschende Klasse) die uns regieren, sondern vielmehr um freischwebende „Programme des Regierens und Sich-selbst-Regierens“, die sich bspw. hinter Begriffen wie Flexibilität, Evaluation, Lebenslanges Lernen und Netzwerk
‚verbergen’. Diese sind nämlich nicht einfach unschuldige Begriffe, sondern nur die sichtbare Spitze von Kraftfeldern, die auf uns einwirken indem sie die Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsweise
der Menschen formen. 'Programme des Regierens' sind daher „Deutungsschemata, mit denen die Menschen sich selbst
und die Welt, in der sie leben, interpretieren; normative Fluchtpunkte, auf die
ihr Selbstverständnis und Handeln geeicht sind; schließlich konkrete Verfahren,
mit denen sie ihr eigenes Verhalten oder das anderer entsprechend steuern".
Entscheidend dabei ist, dass die
Regierungs- und Machtpraktiken, die sich um und über diese Begriffe formieren, nicht
direkt, sondern nur mittelbar, an den Menschen und deren Verhalten ansetzen,
d.h. zuallererst auf den Kontext menschlichen Verhaltens einwirken. Statt als ‚zwingender
Zwang’, der vom Einzelnen als unzulässiger Eingriff in seine ‚Eigenheitssphäre’
erlebt wird und so Widerstand produziert, nutzen diese Regierungspraktiken, dass
die Menschen zwar auf elementare Weise auf Andere und Anderes angewiesen,
gleichzeitig jedoch auf sich selbst zurückgeworfen sind und also ihr Leben
immer nur selbst führen können und müssen. Die zeitgenössischen Machtpraktiken nutzen
und ‚besetzen’ so auf perfide, weil kaum wahrnehmbare Weise, die Vermitteltheit
von Selbst- und Weltbezügen und führen, lenken und leiten die Lebensführung der
Menschen. "Sie rufen Menschen an, sich als Subjekte zu begreifen und sich
in spezifischer Weise [...] zu verhalten, und fördern so bestimmte Selbstbilder
und Modi der 'inneren Führung'“. Zudem haben die so wirkenden Machtpraktiken
einen produktiven Charakter, d.h. statt vornehmlich zu verbieten,
auszuschließen, zu verhüllen und zu zwingen, eröffnen sie Möglichkeitsfelder,
bringen Wirklichkeitsbereiche hervor und fördern bestimmte Verhaltensweisen.
Was der kritische Blick der ‚Gouvernemenatlitätsforschung’ somit zu Tage bringen soll, ist dreierlei:
Erstens sollen die Zumutungen und Anforderungen an den Einzelnen aufgezeigt werden, die sich einstellen aufgrund der ständigen Aktivierungs-, Flexibilisierungs- und Selbstoptimierungsgebote, dem die Einzelnen heute unterliegen. So wird bspw. (nicht nur bei der Arbeitssuche) eine glaubhaft vermittelte Bereitschaft zur Aktivität zur Voraussetzung, überhaupt noch soziale Anrechte geltend machen zu können. Ein weiteres deutliches Beispiel ist lebenslanges Lernen: Was einst eine aufklärerisch-freiheitliche Forderung war, ist nun zum allgemeinen Imperativ geworden, in der jede(r) dazu verbannt ist, sein Leben lang die eigene ‚Bildungsmisere’ zu bearbeiten und damit die Allgemeine partiell zu beseitigen.
Jeder wird
aufgefordert sich selbst zu ermächtigen, erfolgreich zu sein, dazu die
richtigen Beratungsangebote aufzusuchen und permanent sich selbst zu beobachten,
zu testen und zu evaluieren. Schließlich sollte man wissen, ob man aktiv,
flexibel, kreativ und risikobereit genug ist, so dass die Performance des
Ich-Projekts erneut gesteigert und der Marktwert der ‚Ich-AG’ erhöht ist. Das
Menschen vielfältigen Zumutungen und sozialen Anforderungen ausgesetzt sind, ist
natürlich trivial, neu an der heutigen Situation ist jedoch der ständige „Zwang
zur Selbstüberbietung“, der keine natürliche Grenze kennt. Hinzu kommt eine
gleichzeitige, zunehmende Verlagerung gesellschaftlicher Risiken und Kosten auf
das Individuum.
Zweitens liegt besondere
Aufmerksamkeit auf der Aufdeckung der Antinomien, Aporien und Paradoxa heutiger
Sozial- und Selbstverhältnisse. So zeigt beispielsweise Evaluierung paradoxe Effekte: „Weil die Position im Ranking weit
reichende Folgen hat [...], richten die Evaluierten ihr Verhalten prospektiv
auf die zu Grunde gelegten Kriterien hin aus. Man tut, was gemessen,
unterlässt, was vom Bewertungsraster nicht erfasst wird. Evaluation schafft so
erst die Wirklichkeit, die sie zu bewerten vorgibt, und erzeugt statt der
allseits beschworenen Innovationsfähigkeit 'einen Aggregatszustand betriebsamer
Konformität' (Koschorke)".
Drittens soll gezeigt werden, was aus der Beobachtungsperspektive, die bei Gebrauch der untersuchten Semantik eingenommen wird, systematisch ausgeblendet wird. Um bspw. die Unsicherheit sozialer Beziehungen zu umgehen versucht man aus diesen ein Vertragsverhältnis zu machen. Dieser ‚Glaube an die kontraktualistische Vernunft’ durchzieht alle Bereiche des Alltags (vom Ehevertrag bis zum Lernvertrag des Lehrers mit der Klasse) und etabliert sich als ein Ideal sozialer Beziehungen. Dies gilt insbesondere für Erziehungsverhältnisse – in Familie, Kindergarten oder Schule. Deren konkreten Ausformungen werden zunehmend als zu verhandelnde Vertragsbeziehungen strukturiert, so dass deren tatsächliche Asymmetrie durch die Gleichheit der Kontraktparteien überdeckt und somit tendenziell gefestigt und verstärkt wird.
Als Einstieg in ‚Gouvernementalitätsstudien’ empfieht sich das ‚Glossar der Gegenwart’ (aus diesem entstammen die Zitate des Textes), ebenfalls wärmstens empfohlen sei das ganz frisch erschienene Buch ‚Das unternehmerische Selbst’ von Ulrich Bröckling.
Interessant, hatte ich noch nie was von gehört. Bin wohl schon zu lange weg von der Uni...
Aber ähnliche bis gleiche Phänomene gibt es natürlich in klassisch christlichen Kreisen auch. Könnte interessant sein, mal in dieser Hinsicht zu forschen.
Posted by: Onkel Toby | May 10, 2007 at 14:04
yep, das stimmt natürlich. eigenbestimmung kann fremdbestimmung sein in dem sinne, dass man sich einbildet, die handlungsanweisungen, die einem in den sinn kommen, seien auf dem eigenen mist gewachsen. glücklicherweise ist es aber so, dass man auf solche fremdbestimmten imperative auf dauer unmutig reagiert. in irgendeiner form wird sich die abwehr dagegen äußern. manchmal durch depression, manchmal durch sucht oder (wenn man noch mehr glück hat und so gestrickt ist) durch wut oder unlust. diese dinge lassen sich eben nicht _auf dauer_ mit den originären eigenen bedürfnissen vereinbaren.
im normalfall reguliert sich das fremdbestimmtsein durch solche gegenläufigen mechanismen. es gibt natürlich aber auch fälle, wo sich das nicht "auf normale art" regelt, das sind aber eher die ausnahmen.
der punkt ist: wie oder durch was hat ein individuum eine _strukturelle_ chance, den antagonismus von fremd- und eigenbestimmheit zu reflektieren und sich gegebenenfalls aus unguten fremdbestimmungen herauszulösen? irgendwie scheint mir, das geht eben auch nur wieder durch die von dir oben beschriebene (und kritisierte) autonomie, also mittels "selbstermächtigung". das ist also grundsätzlich etwas gutes, nur muss sie eben echt sein und nicht durch fremde erwartungen vergiftet. aber das individuum muss ermächtigt sein dürfen, sich selbst zu definieren.
komisch, ich habe erst gestern beim aufräumen eine alte schallplatte gefunden vom minimal club, auf deren cover hinten drauf der satz steht: "den besitz an sich selbst als produkt formulieren". das ist nicht als aufforderung zu verstehen, sondern als beschreibung eines mechanismus, etwa so wie "mit dem fahrrad fahren". man kann in den scheinbar ins innere verlagerten ansprüchen des funktionierens in kapitalistischen besitzverhältnissen auch einen ansatz zur rückgewinnung subjektiver ansprüche, sehnsüchte und wünsche entdecken, und zwar gerade weil die verlagerung der außenansprüche ins innere zur reflektion von ansprüchen zwingt. ein beweis für diese these liefert z.b. die existenz der von dir angeführten publikationen zu diesem thema. und natürlich auch dein eigener blogeintrag:)
Posted by: itha | May 11, 2007 at 23:10
Hallo Itha,
Danke für Deinen Kommentar. Ich fürchte die Sache ist verzwickter. Die Gouvernementalitätsstudien zeigen gerade, dass wir häufig ÜBER unser Selbstbestimmung quasi fremdbestimmt sind. D.h. nicht nur, dass wir diese Fremdbestimmung gewöhnlicherweise nicht wahrnehmen, sondern auch, dass wir diese wohl auch nicht durch ausgiebige Reflexion einholen können. Denn vieles was uns gerade als authentisches Bedürfnis und emanzipativer Akt erscheint, ist tatsächlich das Gegenteil. Ich hoffe ich komme dazu demnächst mal mehr dazu zu schreiben...
Posted by: tobiK | May 26, 2007 at 09:23
Das Ergebnis Deiner Analyse "Terror des Imperativ zur Selbstoptimierung" finde ich sehr präzise und vollkommen korrekt formuliert.
Kinofilme wie "Die fetten Jahre sind vorbei", "The Matrix" oder "Virtual Nightmare" regen einen da immer wieder mal an drüber nachzudenken.
Ich frage mich allerdings, ob einem ernsthaft Gouvernementalitätsstudien da eine Lösung aufzeigen. Ich finde was Du schreibst recht intellektuell (was nicht verkehrt ist), aber letztlich beschreibst Du mit recht komplizierten Worten einen einfachen Sachverhalt, nämlich ein Herr-und-Sklave-System, dass offenbar ganz ohne Sklavengeschirr auskommt, oder vielleicht doch nicht??
Du zitierst:
"[...] richten die Evaluierten ihr Verhalten prospektiv auf die zu Grunde gelegten Kriterien hin aus."
Wir sind alle ständig Evaluierte! Wir evaluieren uns anhand eines zentralen Leitbildes, und das heisst Geld.
Jeder, ob nun Politiker oder jeder Student wird daran gemessen, ob er "sinnvoll" (was immer das heissen mag!) mit seinem Geld umgeht.
Das Evaluationsziel sagt: Aus Geld muss mehr Geld entstehen. Und daran wird alles gemessen. Was kein Geld bringt, oder nicht in Geldeinheten gemessen bzw. evaluiert werden kann, wird folglich unterlassen. Der Evaluierte hat sich prospektiv mit seinem ganzen Leben auf die massgeblichen Kriterien hin ausgerichtet.
Frieden kann man nicht in Geld messen. Leben kann man nicht in Geld messen. Nächstenliebe kann man nicht in Geld messen. Deshalb spielen diese drei schonmal keine Rolle, sie können kein Evaluationsziel sein.
Angepasstheit für einen Beruf kann man in Geld messen (Kompetenz). Verfügbare Zeit (inklusive Freizeit) kann man in Geld messen. Kriegsgewinne (Umsatz an Waffen, Aktienmarktbewertungen für Rohstoffe) kann man in Geld messen.
Wer also kompetent ist, viel seiner Freizeit opfert und bereit ist Krieg zu führen, der ist erfolgreich!
Wer Nächstenliebe praktiziert, und sein eigenes Leben zum Beispiel für den Frieden riskiert, der ist nach den allgemeinen Evaluationskriterien ein kompletter Versager!
Also steckt man am besten seine Zeit, sein Geld und sein Leben in die Selbstoptimierung (Qualifizierung, Karriere & Selbstverwertung)
Ich bin mir nicht ganz sicher, habe ich da jetzt übertrieben? Es hört sich extrem hart an, wenn ich das so lesen.
Die Frage ist doch nicht warum wir unsere Selbstoptimierung vorantreiben. Nein, die Frage ist doch WAS genau ist das Sklavengeschirr, das wir offenbar nichteinmal sehen können?
WARUM und vor allem WIE hat sich Geld das unantastbare Monopol als Evaluationskriterium gesichert?
Posted by: L'g. | May 27, 2007 at 10:17