Die Säkularisierung der
westlichen Kultur führte, laut Sennett, zu einem folgenreichen Immanenzdenken.
Vereinfacht gesagt: Solange an eine göttliche Ordnung geglaubt wurde, erhielten
die Dinge ihre Bedeutung aus ihrer Stellung in
dieser Ordnung. Durch Zusammenbruch dieser Ordnung müssen die Dinge nun aus sich heraus Bedeutung bekommen. Dies
führt auch zu einer Verwandlung des Zeichens ins Symbol; die Annahme, hinter
einem gegebenen Ausdruck verberge sich eine ganze Welt, war laut Sennett den Menschen
des 18. Jh. noch vollkommen fremd.
Erst diese Entwicklung führt
dazu, dass die Kategorie der Persönlichkeit Eingang in die öffentliche Sphäre
findet. Ist doch die Persönlichkeit gerade die immanente Bedeutung, die wir der
äußeren Erscheinung einer Person zuschreiben. So kommt es von einem Wandel vom
Glauben an die menschliche Natur hin
zu einem Glauben an menschliche Naturen, letzteres ist nichts anderes als die
Idee der Persönlichkeit.
Glaubt man nun jedoch einerseits
an eine Persönlichkeit, die hinter der äußeren Erscheinung eines Menschen sich
versteckt und verlangt andererseits die Authentizität eines Menschen, also dass
er seine wahre Persönlichkeit nicht in der Öffentlichkeit hinter einer Maske
verstecke, kommt es zu folgendem Problem:
Es kommt zur weit verbreiteten Neigung des Zurücknehmens des eigenen Handelns. „Wer sich nicht exponiert, kann auch nicht festgelegt werden. Wer nicht festgelegt werden kann, entgeht möglicher aggressiver Abwertung. In Gruppenzusammenhängen der Arbeit und auch in der Freizeit, in Schule und Hochschule, auf Feten und in Kneipen kann das soweit gehen, dass eine ausgesprochen gedämpfte, defensive Atmosphäre entsteht. Jeder scheint wie in einer Demutsgebärde dem andern durch sein Verhalten versichern zu wollen, dass er ihm nichts tue, was umgekehrt bedeuten soll, dass man selbst auch keine Angst zu haben brauche. […]
Der Preis, der für dieses
intersubjektive Sicherheitssystem gezahlt wird, besteht in einer gewissen
Nivellierung der Verhaltensmöglichkeiten. Kommunikative Offensivität, ein
Flirt, Albernheit, Exzentrik, Exponiertheit sind unter diesen Vorzeichen kaum
geduldet. Gefragt ist eher vorsichtige Freundlichkeit und Behutsamkeit der
Ausdrucksformen.
Ein sehr ähnliches Phänomen wie
diese Zurückgenommenheit im Verhalten, die wir als Schutzreaktion
interpretieren, liegt vielleicht auch in der Neigung vor, sich nicht eindeutig
verhalten zu können oder zu wollen. Uneindeutigkeit
wird als Offenheit gesehen. Keine Entscheidungen zu treffen, Situationen nicht
zu strukturieren, zu „sehen, was kommt“ wird so als Entspanntheit, als Abwesenheit
von Ansprüchen, Druck und Festlegung erlebt. […]
So zurückgenommen und so
uneindeutig das geforderte Verhalten ist, so eindeutig und aggressiv ist oft
die Moralität, mit der anderes Verhalten bewertet wird. Gerade wer sich selbst
sehr zurückgenommen und sehr uneindeutig verhält, kann so ein Denken und
Bewerten offenbaren, das sich ständig in dichotomen Gegensätzen und
Einordnungsmustern bewegt. Wer sich exponiert, wer auffällt, gilt so rasch als
„dominant“, „stellt sich in den Vordergrund“, „gibt an“. Die Gruppe bewacht
sich selbst darin, ja keinen ausscheren zu lassen. „Moralisch“ ist, keinem das
Gefühl zu vermitteln, er sei gefordert. Ansprüche spürt jeder selbst schon
genug.“
(Zitate aus Thomas Ziehe /
Herbert Stubenrauch: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Ideen zur
Jugendsituation, Reinbek bei Hamburg 1982, S.102-104; danke an das ‚Theater der
Versammlung’)
Die Menschen verlieren an
Ausdruckskraft, sie werden im Alltagsleben unkünstlerisch und können nicht
kreativ mit ihren externen Selbstbildern spielen. Diese Fähigkeit expressiv zu
sein ist in elementarem Sinne deshalb gestört, weil man mit dem Äußeren darstellen
muss, wer man wirklich ist. Denn in
der Logik des Immanenzdenkens ist jedes kleine Detail meiner äußeren
Erscheinung ein Indikator meiner wahren Persönlichkeit. Der äußere Eindruck
verbirgt nun nicht mehr das authentische Selbst (wie das noch der Fall war, als
der äußere Ausdruck beispielsweise die Standeszugehörigkeit angezeigt hat),
sondern macht es erkennbar. Ein Verständnis der Persönlichkeit erlangt man
aufgrund von Einzelheiten der Kleidung, Sprache und Verhalten.
Diese Pychologisierung der
sozialen Realität der Gesellschaft beraubt sie ihrer Zivilisiertheit, denn nur
ein Verhalten, dass die Menschen voreinander schützt und es ihnen ermöglicht,
an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden, ermöglicht Geselligkeit. Masken
tragen gehört zum Wesen der Zivilisiertheit. Masken ermöglichen unverfälschte
Geselligkeit, losgelöst von den ungleichen Lebensbedingungen und Gefühlslagen
derer, die sie tragen. Masken zielen darauf, die anderen mit der Last des
eigenen Selbst zu verschonen. Doch: Die intime Gesellschaft macht aus dem
Individuum einen Schauspieler, der seiner Kunst beraubt ist.
Der Druck authentisch sein zu
müssen führt dazu, dass wir uns zwanghaft selbst befragen: Meine ich das
wirklich? Gebe ich mich so, wie ich bin? Dieses Motivations-Selbst nimmt den
Menschen in einer intimen Gesellschaft die Freiheit, mit der Darstellung von
Gefühlen, wie mit objektiven, geformten Zeichen zu spielen. Expression wird
abhängig gemacht von authentischem Empfinden. Jedoch kann man nie klar
bestimmen, was an den Gefühlen authentisch ist. Und viel schlimmer: Wer die
Fähigkeit zu spielen verliert, verliert auch das Gefühl dafür, dass die Welt
plastisch ist.
Sennett ist wirklich scharfsinnig. Am Ende "gewinnt" der, der totale Authentizität am geschicktesten vortäuscht. Oder sind wir seit Big Brother darüber schon hinweg und sehen alles als Theater, nicht nur auf dem Bildschirm?
Posted by: Peter Aschoff | Nov 14, 2006 at 12:42
Genau: Authentizität als der neueste Fake. Ich glaube nicht, dass wir schon darüber hinweg sind, vielmehr sind wir , weil die Grenzen zunehmend verschwimmen, geradezu süchtig nach allem 'Authentischem'. Und da liegt ja auch etwas berechtigtes und positives drinnen, doch dazu hoffentlich ein ander Mal...
Posted by: TobiK | Nov 14, 2006 at 23:49