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Teil6: DIE WAHRHEIT SAGT GOODNIGHT…
Postmodern geprägte Menschen haben gegenüber objektiven Wahrheitsansprüchen (also immer wenn jemand sagt, er habe DIE Wahrheit) eine große Skepsis. Dies ist schnell gesagt und leicht missverstanden. Besonders wir Christen sind oft schnell dabei, dies einfach zu verdammen. Dabei sollten wir zuerst einmal versuchen dies nachzuvollziehen.
Da ich diesen Punkt für sehr elementar halte, möchte ich an dieser Stelle ein wenig ausführlicher werden und eine kurze Anekdote aus meinem Leben dazu erzählen, die mich noch lange verfolgt hat und durch die ich einiges gelernt habe:
Ende letzten Jahres war ich eine
Woche in London. Zwar habe ich kaum touristische Highlights abgeklappert, sondern
mich vorwiegend durch die getriebene Stadt treiben lassen, doch am
Sonntagnachmittag konnte ich mir nicht verkneifen mir die berühmte ‚Speakers
Corner’ im Hyde Park anzuschauen.
Jede Woche versammeln sich hier äußerst
gewiefte Redner, um – meist auf einer kleinen Leiter etwas erhöht stehend – mit
einer äußerst eloquent vorgetragenen Rede ihre Zuhörer von ihrer Weltanschauung
zu überzeugen. So war denn auch ‚alles’ vertreten: Muslime, Kommunisten,
Christen, Juden und militante Atheisten. Ich schlenderte von Redner zu Redner,
um jedem ein paar Minuten zuzuhören. Es war erstaunlich: War man zuerst
skeptisch, so klang schon nach ein paar Minuten zuhören jede Sichtweise
eigentlich recht logisch und man hätte fast überzeugt sein können…Man durfte nur
nicht den Fehler machen, sich von einem Redner zu entfernen und sich einen
anderen Redner anzuhören. Plötzlich klang auch dieser äußerst logisch und
nachvollziehbar…Nachdem ich auf diese Weise einige Male hin und her gewechselt
bin, entfernte ich mich ein bisschen und betrachtete das ganze Treiben aus ein
wenig Entfernung.
Als ich dann die Redner samt den Zuhörern mit einem Blick
sah, wie sie jeweils jeder einzeln DIE Wahrheit verkündeten, geschah folgendes:
Die Überzeugungskraft, die jeder einzelne Redner für sich gehabt hatte,
verschwand. Es war als würden sich die Redner durch ihre gleichzeitige
Anwesenheit gegenseitig neutralisieren. All die toll klingenden Argumente
wuchsen zusammen zu einem großen Blah.
Bzw. man wurde nun auf die metakommunikative Seite des Ganzen aufmerksam: Es
wurde unwichtig, was der einzelne
sagte, man merkte, dass jeder eigentlich am sagen war: ICH HABE DIE WAHRHEIT;
ICH HABE DIE WAHRHEIT, DIE WAHRHEIT IST, ICH HABE DIE WAHRHEIT!!! Es ist wie
mit manchem Lehrer, der an einer Tafel steht und eine mathematische Formel
erklärt, aber was er unbemerkt auch sagt (also auf der metakommikativen Seite)
und was die Schüler hören ist: ÜBERLEGENHEIT; ÜBERLEGENHEIT; ÜBERLEGENHEIT.
Schlagartig wurde mir klar, dass
diese ganze Szene symbolisch für unsere ‚spätmoderne’ Situation stand. Wie oft
hatte ich gehört, was Pluralismus ist und erst jetzt verstand ich es. Genauso
wie mir in diesem Moment geht es vielen Menschen in unserer Gesellschaft:
jeder Politiker, jede Weltanschauung, jede Religionen und jede Werbung, alle
proklamieren sie DIE Wahrheit. All das erscheint mit ein wenig Distanz
betrachtet (und diese haben heute nicht wenige Menschen) wie ein großer Chor,
in dem alle durcheinanderschreien: ICH HABE DIE WAHRHEIT und der zusammen einen
hässlichen, kaum ertragbaren Sound erzeugt. Genau deshalb sind so viele
Menschen müde und krank und reagieren allergisch, wenn sich wieder jemand vor
ihnen aufbaut und schreit: ICH HABE DIE WAHRHEIT!
Genau deswegen nützt es uns Christen
überhaupt nichts, wenn wir einfach nur noch lauter oder noch schlauer schreien:
WIR HABEN DIE WAHRHEIT! Selbst wenn wir die Wahrheit hätten, würde uns dies
nichts nützen. Aber wir haben die
Wahrheit nicht! Jesus ist nicht gekommen und hat gesagt ich habe die Wahrheit, jetzt übergebe ich sie
Euch, hier ist sie, passt gut drauf auf.
Jesus sagte: Ich bin die Wahrheit. Genau deswegen können wir die Wahrheit nicht beweisen, sondern diese muss sich erweisen.
Es nützt nichts, dass ich jemand von der
Wahrheit zu überzeugen versuche, ich muss sie leben. Wenn jemand bei der ‚Speakers
Corner’ einen wirklichen Unterschied
hätte machen wollen, dann hätte er von seinem Treppchen herunterkommen und zu
überzeugen versuchen aufhören zu müssen, um stattdessen den Menschen dort zu
dienen, z.B. jemandem Aufmerksamkeit schenken, für jemanden zu beten, jemandem
‚die Füße zu waschen’ etc. - und damit eine andere metakommunikative Botschaft
zu hinterlassen, als ICH HABE DIE WAHRHEIT; ÜBERLEGENHEIT; ICH HABE DIE
WAHRHEIT; ÜBERLEGENHEIT…Eine große Herausforderung, die daraus erwächst!
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