Teil 0/ Teil 1/ Teil 2/ Teil 3/ Teil 4
Teil 5/ Der zweite Kränkungsprozess:
Der zweite Kränkungsprozess wurde durch die (Natur-)Wissenschaft selbst eingeleitet. Mit deren Fortschreiten wurde zunehmend bewusst: Zwar nimmt das Wissen wie zu (z.B. wie man Energie immer effektiver und nutzenbringender einsetzt), aber nicht das Wissen was (was Energie wirklich ist, aus welchen kleinsten Teilen oder Wellen sie besteht). Noch Ende des 19. Jahrhunderts war man der allgemeinen Überzeugung und der Hoffnung, dass die wissenschaftliche Erforschung und Erfassung der Welt in einigen Jahrzehnten abgeschlossen sein würde. Doch nachdem man die Grenzen der Erkenntnis immer wieder und immer weiter verschieben musste, deren Ende aber niemals auch nur annähernd in Sicht kam, verlor man zunehmend die Hoffnung, dass das Wissen endlich sei. Vielmehr scheint das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen einem Ballon zu ähneln. Wenn die Oberfläche des Ballons das Wissen und die Luft das Nicht-Wissen ist, dann wird klar, dass mit dem Aufpusten des Ballons, das Wissen zwar wächst, aber ebenso dessen Berührung mit dem Nicht-Wissen. Mit anderen Worten: Mit jeder beantworteten Frage, entstehen noch mehr Fragen.
Zu diesem Prozess führten, wie
gesagt, die Naturwissenschaften selbst, in dem sie durch Relativitätstheorie
und Quantentheorie die mechanistische und materialistische Weltsicht
erschütterten. Die Welt, so wurde lange gedacht, besteht letztlich aus Materie,
also aus chemischen Verbindungen, die aus Molekülen und damit aus
Atomen, die wiederum aus Elementarteilchen (Elektronen, Protonen) bestehen.
Diese letzten Bausteine der Materie aber, so fand man heraus, sind nichts
Materielles, nichts Gegenständliches. Materie ist nur eine Erscheinungsform von Energie, doch wir wissen nicht, was Energie ist. Hier stoßen wir an die
Grenzen unseres menschlichen Verstandes und Vorstellungsvermögens. Nicht nur
wir, sondern auch die Wissenschaftler: Vereinfacht kann man sagen Materie ist nicht, Materie ereignet sich. Denn die Elementarteilchen existieren nicht wie
Teilchen zu einer Zeit an einem bestimmten Ort. Sie haben solche Eigenschaften
wie Ort, Farbe, Temperatur etc. nur, wenn sie durch ein menschliches Experiment
dazu gezwungen werden.
Dies heißt erstens: Die Welt besteht nicht aus einer festen Materie, einer Substanz und kann daher auch nicht mechanistisch verstanden werden. Zweitens bedeutet dies, und damit zitier ich den Christen und Naturwissenschaftler Hans Rohrbach: „die Natur ist ihrem Wesen nach nicht objektivierbar“. Die Natur ist also nicht einfach ein Gegenstand (Objekt), das wir (als Subjekt) einfach und neutral beobachten könnten. Deutlich machte dies auch Heisenbergs berühmte Unschärferelation, die zeigte: Der Beobachter beeinflusst immer das Beobachtete. Der Beobachter steht also nicht außerhalb des Beobachteten, sondern ist unverrückbarer Teil des Beobachteten. Dies führt also drittens zur Erschütterung des Glaubens an den neutralen Beobachter: Wenn alle unsere Erkenntnis einen ‚subjektiven Einschlag’ hat, heißt dies auch, dass jede Erkenntnis und jede Perspektive die man einnehmen kann einen blinden Fleck hat. Ich kann mit meinen Augen sehen, was vor mir und zu einem gewissen Grad neben mir ist, aber nicht was hinter mir ist. Jeder Blick hat unweigerlich einen unbekannten blinden Fleck, weil der Beobachter der Welt nicht außerhalb der Welt steht, sondern ein Teil der beobachteten Welt ist.
Dies führte auch zum so genannten Konstruktivismus: Da ich nicht aus meiner Wahrnehmung herausschlüpfen kann, um zu sehen, inwiefern meine wahrgenommene Wirklichkeit mit einer Wirklichkeit jenseits meiner Wahrnehmung übereinstimmt, kann ich mir nicht mehr sicher sein, was meine Konstruktion ist und was nicht. Im sogenannten ‚Radikalen Konstruktivismus’ geht man daher davon aus, dass alle Erkenntnis eine bloße Konstruktion ist. Dieser Ansatz erfreut sich in einer vereinfachten Version großer Beliebtheit – auch bei Menschen, die sich nicht mit Philosophie beschäftigen.
Zusammenfassend kann man sagen,
dass dieser Kränkungsprozess den Glauben an die wissenschaftliche Vernunft, die
Möglichkeit eines objektiven Wissens und damit einer Wahrheit, die
zu allen Zeiten und für alle Menschen gilt, zunehmend und unvermeidlich
unmöglich machte und somit die Moderne in ihren innersten Prinzipien
erschüttertet wurde.
Fortsetzung folgt (Wahrheitsallergien und das Ende der großen Erzählungen...)
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