„Geht es den Anderen auch so: daß sie sich in ihrem Äußeren nicht wieder erkennen? Daß ihnen das Spiegelbild wie eine Kulisse voll von plumper Verzerrung vorkommt? Daß sie mit Schrecken einen Abgrund bemerken zwischen der Wahrnehmung, die die Anderen von ihnen haben, und der Art, wie sie sich selbst erleben? Daß die Vertrautheit von innen und die Vertrautheit von außen so weit auseinander liegen können, dass sie kaum mehr als Vertrautheit mit demselben gelten können?
Die Ferne zu den Anderen, in die uns dieses Bewusstsein rückt, wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, dass unsere äußere Gestalt den Anderen nicht so erscheint wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, dass sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen. Unterwegs wird der Blick abgelenkt und getrübt von all den Wünschen und Phantasmen, die uns zu dem besonderen, unverwechselbaren Menschen machen, der wir sind. Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von den Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt sind, dass sie mehr über uns selbst als über den Anderen aussagen. […] Und so sind wir uns doppelt fremd, denn zwischen uns steht nicht nur die trügerische Außenwelt, sondern auch das Trugbild, das von ihr in jeder Innenwelt entsteht.
Ist sie ein Übel, diese Fremdheit und Ferne? Müßte uns ein Maler mit weit ausgestreckten Armen darstellen, verzweifelt in dem vergeblichen Versuch, die Anderen zu erreichen? Oder sollte uns sein Bild in einer Haltung zeigen, in der Erleichterung darüber zum Ausdruck kommt, dass es diese doppelte Barriere gibt, die auch ein Schutzwall ist? Sollten wir für den Schutz dankbar sein, den uns die Fremdheit voreinander gewährt? Und für die Freiheit, die sie möglich macht? Wie wäre es, wenn wir uns ungeschützt durch die doppelte Brechung, die der gedeutete Körper darstellt, gegenüberstünden? Wenn wir, weil nichts Trennendes und Verfälschendes zwischen uns stünde, gleichsam ineinanderstürzten?“
Aus Pascal Mercier ‚Nachtzug nach Lissabon’
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