Wie erlangte die Denkfigur des ‚homo clausus’ eine solche
Evidenz? Woher stammt die spezifische Selbstwahrnehmung, aus der das ‚homo
clausus’-Denken seine Plausibilität erfährt?
Paradigmatisch für das ‚homo clausus’-Denken ist die
Philosophie des vielleicht ersten neuzeitlichen Philosophen René Descartes. Die
bei ihm auftauchende strikte Trennung von menschlichem Bewusstsein (‚res
cogitans’) und Außenwelt (‚res extensa’) ist bis heute tief im Denken der
Menschen verankert. Dieses strikte dichotome Innen/Außen-Denken und Descartes’
Vorstellung eines quasi ‚wirlosen Ichs’, wurde von da an zum unhinterfragbaren
Bestandteil des philosophischen Erkenntnissubjekts. Das Denken Descartes’ weist
alle Züge des ‚homo clausus’-Denkens auf. Keineswegs jedoch würde Elias
behaupten, das ‚Subjekt’ Descartes wäre der Erfinder und somit die Ursache bzw.
der Urheber des ‚homo clausus’-Denkens. Diese Art von naiver Ideengeschichte
liegt Elias fern. Vielmehr sieht er Descartes „die gesellschaftliche Wende
seiner Zeit zum Ausdruck“ bringen. Zu dieser Wende gehört der einsetzende
umfassende Individualisierungsschub des 15. bis 17. Jahrhunderts, die
zunehmende Säkularisierung, das Ende des Feudalismus, die zunehmende
Kommerzialisierung und Staatenbildung, der Aufstieg höfischer und städtischer
Schichten, die wachsende Kontrolle über Naturzusammenhänge und im Zuge all
dessen eine neue Form des Selbstbewusstseins, eine stärkere Selbstdistanzierung
und eine stärkere Selbst- bzw. Affektkontrolle. Ab dem späten Mittelalter bzw.
der frühen Renaissance entsteht eine neue Form des menschlichen
Selbstverhältnisses. In dieser Zeit findet der erste große Schub in Richtung
einer internalisierten, quasi automatisierten Selbstkontrolle statt. Dieser
Schub kommt zustande auf Grund von Veränderungen in der Struktur bzw. der Art
und Weise menschlicher Interdependenzverflechtung.
Eine wichtige Rolle dabei spielt das Verlassen des
geozentrischen Weltbildes, das – wie Elias betont – nur im Zusammenhang mit
einer größeren Selbstdistanzierung der Menschen entstehen konnte, gleichzeitig
aber in ein egozentrisches Weltbild mündet, in dessen Mittelpunkt der einzelne,
unabhängige Mensch, der ‚homo clausus’, steht. Dieses egozentrische Weltbild
gewinnt dann „im Laufe der Neuzeit für eine große Anzahl von Menschen die
gleiche unmittelbare Überzeugungskraft, die im Mittelalter die Bewegung der
Sonne um die Erde als Mittelpunkt der Welt besaß“.
Diese Distanz zu sich selbst, die in verstärkter Form und
neuartiger Qualität seit der Renaissance auftaucht und sich von da ab immer
stärker ausbreitet, führt zum ‚homo clausus’-Denken, in dem sie als eine real
vorhandene Distanz zwischen sich und der Außenwelt – die immer mehr zum
erkannten Objekt wird – wahrgenommen wird. Dazu ein längeres Zitat von Elias:
„Die festere, allseitigere und ebenmäßigere Zurückhaltung
der Affekte, die für diesen Zivilisationsschub charakteristisch ist, die
verstärkten Selbstzwänge, die unausweichlicher als zuvor alle spontaneren
Impulse daran hindern, sich direkt, ohne Dazwischentreten von
Kontrollapparaturen, motorisch in Handlungen auszuleben, sind das, was als
Kapsel, als unsichtbare Mauer erlebt wird, die die ‚Innenwelt’ des Individuums
von der ‚Außenwelt’ oder je nachdem auch das Subjekt der Erkenntnis von den
Objekten, das ‚Ego’ von den ‚Anderen’, das ‚Individuum’ von der ‚Gesellschaft’
trennt, und das Abgekapselte sind die zurückgehaltenen, am unmittelbaren Zugang
zu den motorischen Apparaturen verhinderten Trieb- und Affektimpulse der
Menschen. Sie stellen sich in der Selbsterfahrung als das vor allen Anderen
Verborgene und oft als das eigentliche Selbst, als Kern der Individualität dar.
Der Ausdruck ‚das Innere vom Menschen’ ist eine bequeme Metapher, aber es ist
eine Metapher, die in die Irre führt.“
Trotz der unmittelbaren Evidenz, der scheinbaren
Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit des ‚homo clausus’-Denkens, ist dieses
somit etwas historisch Entstandenes und nicht etwa eine anthropologische
Tatsache. „[Es, d. Verf.] ist der Ausdruck für eine eigentümliche
geschichtliche Modellierung des Individuums durch ein Beziehungsgeflecht, eine
Form des Zusammenlebens mit anderen von ganz spezifischer Struktur.“
Die Denkfigur des ‚homo clausus’ taucht jedoch nicht zum
ersten Mal in der Renaissance auf. Dies ist nur der Zeitpunkt, von wo aus
dieses Denken sich immer weiter in den abendländischen Gesellschaften
ausbreitet. Vielmehr meint Elias, dass die Vorstellung des ‚homo clausus’ sich
eigentlich immer dann zeigt, „wenn Menschen sich als denkende Wesen
wahrnehmen“. Die Denkfigur des ‚homo clausus’, die eine bestimmte Form des
Selbstbewusstseins darstellt, ist somit etwas, dass „erst spät in der
Gesellschaft auftaucht, langsam erst und für relativ kurze Zeit in begrenzten
Zirkeln antiker Gesellschaften und dann wieder seit der sogenannten Renaissance
in okzidentalen Gesellschaften.“
Die oben genannten Prozesse, die zur Denkfigur des ‚homo
clausus’ geführt haben, haben bis heute weiter zugenommen, gleichzeitig hat sich
dieses Denken immer mehr verfestigt und an Plausibilität und unmittelbarer
Selbstverständlichkeit gewonnen. Das ‚homo clausus’-Denken ist somit ein
„Grundzug der sozialen Persönlichkeitsstruktur von Menschen der neueren Zeit“.
Weitere Verstärkung erlangt es durch die zunehmende Abschwächung der Bedeutung
der Wir-Identität der Menschen und der darauf erfolgenden Dominanz der
Ich-Identität, die verbunden mit Differenzierungs- und
Individualisierungsprozessen an Gestalt gewinnt. Der ‚homo clausus’, ausgedrückt
im neuzeitlichen Wort des ‚Individuums’, wird damit zum Idealbild:
„Man wird von Kindheit dazu erzogen, ein unabhängiger, ganz
auf sich gestellter, von allen anderen Menschen abgeschlossener Erwachsener zu
werden. Am Ende glaubt man oder fühlt man, dass man das, was man sein soll, was
man vielleicht auch zu sein wünscht, auch tatsächlich ist. Genauer gesagt
vermischt man Tatsache und Ideal; das, was ist, und das, was sein soll.“
Wie lässt sich aber einer Denkfigur entkommen, die nicht nur
ein Höchstmaß an Selbstverständlichkeit und Plausibilität besitzt, sondern auch
noch normativ positiv aufgeladen ist und als Idealbild dient? Als weitere
Schwierigkeit kommt hinzu, dass eine solche grundlegende Vorstellung des
menschlichen Denkens wie die Denkfigur des ‚homo clausus’ „zu den
unentbehrlichen Orientierungsmitteln, ohne die man seinen Halt verliert“
gehört.
Laut Elias können wir der starken Verankerung dieser
Denkfigur in unserer gedanklichen Reflexion nur dann entkommen, wenn wir einen
weiteren Schub der Selbstdistanzierung durchlaufen, wenn wir eine neue Stufe
auf der „Wendeltreppe des Bewusstseins“ erklimmen. Die Selbstdistanzierung muss
soweit gehen, dass man sich selbst als einer unter vielen wahrnehmen kann. Erst
dann ist es möglich, sich und andere von vornherein als in menschliche
Interdependenzgeflechte eingebettet anzusehen. Diese Selbstdistanzierung zu
erbringen traut Elias am ehesten der wissenschaftlichen Reflexion zu.
Recent Comments